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Achtsamkeit – das hörte sich erst mal komisch an für mich. „Sei achtsam“ erinnert mich irgendwie an mütterliche Ermahnungen, an artig sein, an brav sein. Und das ist so gar nicht mein Ding. Ich habe das Achtsamkeitstraining trotzdem gemacht. Hauptsache es hilft, habe ich gedacht. Gegen Stress. Gegen das Gefühl, dem Druck von Terminen und Erwartungen hilflos ausgeliefert zu sein. Gegen die nächtliche Ruhestörung im Gehirn wenn die Gedanken störrisch im Kreis rattern und alles Rückwärts zählen nicht hilft. Gegen das Gefühl, im Zeitraffertempo zu altern. Gegen die Angst, ständig etwas zu verpassen: ein großartiges Geschäft, ein tolles Gespräch, ein umwerfender Mann, eine einzigartige Begegnung. Die man vor lauter Angst tatsächlich verpasst.

Acht Abende soll ich nun lernen achtsam zu sein. Mir ist völlig unklar wie das gehen soll. Der erste Abend stellt mich gleich vor eine Herausforderung. Drei Rosinen fordern meine volle Aufmerksamkeit. Wir sollen jede einzelne „achtsam essen“. Jede einzelne soll erst mal betrachtet werden, dann erfühlt, mit dem Riechorgan erkundet und zuletzt gegessen werden. Schön langsam. Damit keiner in Versuchung kommt das Tempo zu beschleunigen, geschieht das unter der sachten Anleitung unser Kursleiterin Angelika Wild-Riegel.

Langsam versinkt die Welt um mich herum. Meine Lebensmittelpunkt ist eine Rosine. Sie nimmt immer mehr Raum ein. Ich staune. Sie scheint immer größer zu werden, ihre Falten und Furchen gleichen einer Landkarte, sie verströmt einen süßlichen Duft. Ein Schälchen Milchreis mit Rosinen taucht aus meiner Kindheit auf, ein Urlaub in Marokko und der unschlagbar leckere Kuchen meiner Großmutter schwebt vorbei. Als ich mit der Aufgabe fertig bin und der letzte Rest von Rosine die Speiseröhre hinabgerutscht ist, holt Angelika’s Stimme mich sanft aus den Tiefen der Erinnerung hinaus. Ich habe keine Ahnung wie lange ich auf Rosinenreise war. Die Zeit hat für einen Moment aufgehört, zu existieren.

Im Laufe des Trainings lerne ich immer mehr, in mich hinein zu lauschen, zu fühlen und darauf zu „achten“ was in diesem Wunderwerk von Körper und Geist vor sich geht. Wir machen Yogaübungen, geführte Meditationen und den so genannten Bodyscan, eine Reise des Geistes durch den eigenen Körper.

Alles was da ist, was ich da empfinde – von Moment zu Moment- darf da sein, ist gut. Das ist ein zentraler Satz, den ich an jedem Abend des Achtsamkeitstraining gehört habe. Er hat mein Leben verändert. Anders als beim autogenen Training wird beim Bodyscan keine Körperempfindung suggeriert. Die Aufgabe ist einfach nichts zu tun. Nur das Bewusstsein auf ein bestimmtes Körperteil richten und beobachten, was da gerade passiert. Kribbeln, Wärme, Kälte, Zuckung, was auch immer. Und wenn da keine Empfindung ist, ist das auch in Ordnung. Alle Erwartungen fallen lassen. Ein großartiges Gefühl. Ich muss nichts tun. Es muss nichts passieren. Ich kann nicht versagen. Ich mache alles richtig ohne irgend etwas zu tun. Ich ahne, warum das Achtsamkeitstraining als Antistress-Training so großen Erfolg in den leistungsorientierten Ländern des Nordens hat. Dabei kommt das Prinzip der Achtsamkeit aus einem Land des Südens, aus fernöstlicher Philosophie und Religion. Ich lerne meinem Gefühl, meiner Empfindung zu vertrauen. Ich lerne dem Leben zu vertrauen. Und zwar nicht in der Theorie sondern ganz und gar praktisch. Es zwickt mich etwas? Soll es doch zwicken. Ich weiß ja, dass es im nächsten Moment wieder aufhört. Ganz von allein. Und so kann ich meine Gedanken und mein Erleben auf das konzentrieren, was gerade ist. Wenn die Gedanken im Jetzt sind, können sie nicht wie eine Horde wilder Affen in der Vergangenheit herum springen oder ein wüstes Konstrukt von Zukunft mit all den Sorgen und Ängsten bilden. Das tut gut. Ich bin im Hier und Jetzt.

Das gelingt natürlich nur bedingt. Wenn der Trainingsabend vorüber ist, verlasse ich die Insel der glückseligen Teilnehmer und ziehe hinaus in die raue Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist: Multitasking, Termine einhalten und Menschen begegnen, die man manchmal lieber ausblenden würde. Und da kann ich dann üben was ich in der Gruppe gelernt habe. Achtsam sein, wenn die Emotionen mich zu überrollen drohen. Tief atmen, den Kontakt mit dem Boden fühlen und in mich hinein horchen. Ist das Wut, die da anrollt aus dem Untergrund? Tatsächlich. Eine einzige spitze Bemerkung droht mich auf hundertachtzig zu bringen. Was passiert da gerade. Ein mulmiges Gefühl im Magen, ein Druck, der von unten nach oben steigt, die Kiefern pressen auf einander, die Rückenmuskeln spannen an. Atmen, atmen, tief atmen und loslassen. Gut so. Die unangenehmen Emotionen sind nicht weg. Aber ich habe sie bemerkt. Und ich kann mir später überlegen was mich da so auf die Palme gebracht hat. Da hat offenbar jemand einen wunden Punkt getroffen. Ich werde herausfinden woher er rührt.

Klar ist: der Stress wird nicht weniger durch das Achtsamkeitstraining. Aber ich lerne, anders damit umzugehen, besser auf mich zu „achten“. Ich habe feste Zeiten in meinen Alltag eingebaut, damit ich die formalen Übungen wie Meditation und Bodyscan, regelmäßig weiter mache. Das fällt nicht schwer, denn sie tun mir gut. Und auch das habe ich gelernt: zu merken was mir gut tut und was mir nicht gut tut, wo meine Grenzen sind und diese auch wohlwollend zu respektieren. Ich habe gelernt, Gefühle zu zulassen, auch wenn sie unangenehm sind. Und ich bin erstaunt wie erleichternd das ist. Wenn Schwesterchen Traurigkeit an die Tür klopft, lasse ich sie herein, biete ihr eine Tasse Tee an und weine mit ihr bis sie wieder geht. Seitdem geht es mir besser. Und seitdem schauen auch all die anderen öfter mal vorbei: Schwesterchen Freude, Mütterchen Liebe, Brüderchen Spaß.
G.M.